Montagnachmittag. Ein seltsamer. Alle, die heute was zu erledigen haben, wovon man zu Wochenbeginn ja ausgehen kann, scheinen das mit dem Auto zu tun. Was Wunder – es ist besser mit Sitzheizung unterwegs zu sein. Steinheim, Groß-, Kleinauheim, alles tot. Und weil mir zu viele Leute grade auch zuviel sind, bin ich, in der Hoffnung, dass wenigstens im Schlosspark ein paar Unbeirrte dem Januar die lange Nase zeigen, bei den sechs Schwänen und ihrer Schwester gelandet – genauer gesagt: auf der Bank hinter der Schwester.

   Die hätte es durchaus warm gehabt auf ihrem Scheiterhaufen, wenn ihre Brüder nicht, um sie und sich selbst zu retten, durch den Wald heranfliegen würden – deshalb die senkrechten Stangen zwischen den Schwänen. Hm, Bäume im Teich – sind das dann Mangroven? Schon gemein jedenfalls jahrelang nix sagen zu dürfen und sich auch noch das Lachen verkneifen zu müssen. Na gut, zu lachen hatte sie eh nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Schwiegermutter ihr drei Mal das Neugeborene geklaut hat und die Lippen der Guten mit Blut bestrich. Schwester und Schwäne standen von 1984 bis 2011 übrigens am Freiheitsplatz, ehe das Forum sie zum Umzug nötigte. Die Motivwahl der Plastik damals bezog sich zum einen, natürlich, auf die Brüder Grimm, zum anderen auf den Schwan als Helmzier der hiesigen Recken, der im 14. Jahrhundert seinen Weg ins Stadtwappen fand. Geschaffen hat sie Albrecht Glenz. Am 6. Februar ist sein zweiunddreißigster Todestag. Ebenso wie sein Vater lehrte er an der Hanauer Zeichenakademie. Weitere Arbeiten von ihm finden sich u.a. in der Christus- und der Lutherkirche, wo er Altar, Altarkreuz, Taufbecken und Leuchter gestaltete.

   Ich frage mich, ob er das 2022 auch noch machen würde, jetzt, da sich das Inventar unübersehbar aufzulösen beginnt – ein schrumpfendes Land die Unfehlbarkeit, umgeben von Atlantik, und keiner, der über Wasser geht.

   Auf dem Schlossteich sorgt eine weiße Ente mit schwarzen Flecken für Unruhe. Bis eine Frau auftaucht, an der einen Hand ihre Tochter, an der anderen eine große Stofftasche, aus der sie Brot hervorholt, das die Kleine in schnabelgerechte Stücke pflückt und ins Wasser wirft.

   Eine ernste Seniorin mit Taschenwärmer an der Leine nähert sich, wir schauen uns an, ich lächle, sage "Hallo", doch sie geht schweigend weiter. Danach folgt ein südländisch aussehender Mann, ganz in schwarz, eine ebenso dunkle Strickmütze auf dem Kopf. In einiger Entfernung sehe ich noch die Seniorin und muss an Aktenzeichen XY denken – erst hat es mich getroffen, nun ihn. Wir sehen halt aus wie wir aussehen. Und wie wir auch aussehen, irgendein dummes Vorurteil bedient man immer, ganz gleich wie kurz oder lang die Haare sind an denen es herbeigezogen wird.

   Bald darauf schiebt eine Frau einen Rollstuhl vor sich her, ein Mädchen darin, die Glieder unnatürlich verrenkt, der Mund verzogen, die Augen halb geschlossen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, weil ich an meine beiden Jungs denken muss wie sie herumtoben mit ihren großen runden Augen, zwei Außerirdische die lachen und feixen und Arme und Beine in die Luft werfen, grad so, als wollten sie Sterne pflücken. Ich komme mir ein bisschen beschränkt vor mit all den kleinen und großen Sorgen die ich durch meinen Alltag schleppe, den abgeschlossenen Versicherungen und dem Mangel an Übermut, während ich das Mädchen ansehe und meine zwei daheim Purzelbäume schlagen, ganz aufgebracht von der Leichtigkeit des Seins – und mir fällt ein alter Werbeslogan ein: "Tu nicht so erwachsen!" Da ist so viel Platz zwischen den Sternen keine Angst zu haben, dass die einzige Furcht, die zu begründen ist, die ist, blind zu sein.

   Ein ergrauter Herr in beige und blau, ein Basecap auf dem Kopf, den schiefen Gang auf einen Stock gestützt, humpelt mit seinem Hund vorbei. So weit, so gut – aber die Socken! In Knallorange! Ein Senior mit kleinem, doch deutlichem Bekenntnis zur Farbe. Dem Winter zu trotzen in aussichtsloser Lage, genau das brauche ich jetzt. Guter Mann. Einer handvoll Kids,von Kopf bis Fuß in schwarz, möchte ich zurufen:"Guckt euch den Mann da an! Guckt ihn an! Der weiß mehr vom Frühling als wir alle zusammen!" Wahrscheinlich hielten sie mich für bekloppt. Und vermutlich hätten sie nicht mal Unrecht. Aber das ist auch gut so.

 

 

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Gedichte sind keine Mühsal der Interpretation wie uns die Schule sie lehrte. Gedichte sind eine Möglichkeit nach Fragen zu suchen unseren Platz im Leben zu finden.