Ja, der Frühling hat nicht nur angefangen, er nimmt richtig Fahrt auf – ich lehne Richtung Hafen am Geländer der Steinheimer Brücke und die tiefer stehende Sonne wärmt mir den Rücken. Hinter mir rauscht der Feierabendverkehr durch eine Wolke aus Feinstaub. Wie es hier wohl 1873 war, als sechzehnhundert Jahre nach der Zerstörung einer römischen Brücke in Kesselstadt die erste feste Querung  Hanaus über den Main eingeweiht wurde? Leiser. Ganz bestimmt. Hätten sicher nicht schlecht gestaunt damals, wie laut und schnell die Welt noch werden würde.
   Schnell sind auch E-Bikes – da kommt eins angesaust, sieht aus wie eine Enduro aus den 1980ern, der Mann darauf martialisch verpackt als ziehe er in die Schlacht oder spiele in einer finnischen Metal-Band. Ihm folgen zwei Jogger in Funktionskleidung, und der junge so zum ergrauten:"Wenn man sich nicht dumm anstellt, hat sich das Geld auf dem Konto ver-xt-facht. Die mit ihren Sparbüchern ..." Den Rest trägt der Wind fort.
   Und es geht sportlich weiter: Eine Frau auf einem Rennrad biegt ab, um unter der Brücke durchzufahren. Na, eigentlich sind es ja drei: 1875 wurde zunächst noch die Eisenbahnbrücke fertiggstellt, über die eine Weile auch die Straßenbahn nach Steinheim fuhr, ehe am Ende des 2.Weltkriegs die Wehrmacht auf ihrem Rückzug (wohin wollte die sich eigentlich noch zurückziehen?) beide hochjagte. Nach der Wiederherstellung kam rund fünfzig Jahre später die für die S-Bahn hinzu, und erst da wurde der Flakturm abgerissen, der wundersamer Weise zuerst den Krieg und dann den Hanauer Neuaufbau unbeschadet überstanden hatte.
   Ein E-Roller weist durch eine Fahrradklingel – was für ein Anachronismus! – ein unbedacht schlenderndes, Stieleis schleckendes Pärchen darauf hin, das es hier zügig vonstatten geht. Mir fällt auf, dass sich niemand die Zeit nimmt einfach mal stehen zu bleiben, nach Steinheim rüber zu schauen oder in den Main, in das fließende Wasser, sich nicht von Zielen treiben zu lassen. Die Spiegelung eines Baumes an der Einfahrt zum Hafen trifft auf die der Sonne und es sieht es aus, als hätte der Baum Feuer gefangen.    
   Direkt unter mir hat ein Frachter festgemacht. Descanso heißt er, 135m lang, fast 12m breit. Ich schaue von oben in den Frachtraum, während die mächtigen Klauen des Krans sich vom Kai aus wieder und wieder in die Ladung bohren: Hunderte von Autos, plattgedrückt wie Igel auf der Landstraße. Räder, Motorhauben, Auspuffrohre, Extremitäten der Mobilität, die sich auf einem umgepflügten Friedhof in den Himmel strecken, namenlos geworden in Masse und Grad der Zerstörung. An einem Rad noch sind Schneeketten montiert.
   Wie viele Menschen mögen ihr Ende gefunden haben in diesen Tonnen von Schrott, plötzlich oder elend langsam? Wie viele Kinder gezeugt auf den Rücksitzen? Wie viele Tränen geflossen in den Fahrgastzellen auf letzten Fahrten zu Eltern oder Freunden in Altenheimen, Krankenhäusern? Wie viele stupide Lächeln gelächelt auf dem Heimweg von einem ersten Date? Wie viele Trommelwirbel geschlagen auf den Lenkrädern, in all diesen Stunden von Freiheit und Glück und lauter Musik, Ausbruch, Warten, Kerker, Trauer, Wut, dem Irrsinn immer schneller, immer bequemer von A nach B zu kommen oder im Kreis zu fahren, nun gestapelt auf 135m, ein Friedhof anonymer Geschichten, ein Synonym für die Heuschrecke Mensch, und der Main fließt dahin wie immer, gleichgültig brandend am Totenschiff, das für ihn nicht mehr ist als ein Kiesel am flachen Ufer.
   Eine Familie radelt vorbei, und das Nesthäkchen auf seinem Sechzehnzöller ruft:"Oh, Mama, was für 'ne große Brücke! Und da fahr ich jetzt drüber!" Sie ist ganz aufgeregt. Wie ein Tourist. Aber sind wir das nicht alle, Touristen?
   Ich schaue ihr nach. Ihr gelber Helm leuchtet in der Sonne. Und ohne dass sie es schon begreifen könnte ist sie von ihren Eltern auf den Beginn einer Brücke geführt worden, deren Ende nicht abzusehen ist. Ich wünsche ihr eine gute Reise, die mehr Tage wie diesen als andere hat und einen Fluss der so breit ist, dass sie schließlich sagen kann:"Ja, es ist gut."

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Gedichte sind keine Mühsal der Interpretation wie uns die Schule sie lehrte. Gedichte sind eine Möglichkeit nach Fragen zu suchen unseren Platz im Leben zu finden.