Neujahr 2022. 17:57 Uhr. Wolken decken die Sterne zu, es ist warm. Ich bin eben angekommen. Corona wegen hat alles zu. Aber Tische und Stühle haben sie stehen lassen, unangekettet, im Vertrauen einer natürlichen Geste den Ziellosen Halt zu bieten. Vielen Dank dafür.

   Ich breite meine Sachen auf dem Tisch aus und nehme den Stift in die Hand, mir gegenüber die orangeleuchtende Fassade des Goldschmiedehauses, wie alles unter einer behaglichen Lichtglocke, und der Love Tree mit den strahlenden Ästen wie ein Klöppel darin, der alle herbeiläutet – und ja, jetzt läutet es rundherum, es ist 18:00 Uhr und es wird zur Messe gebeten. Ein Mann und eine Frau, die als einzige noch sich niedergelassen haben, erheben sich von ihren Stühlen, beide mit Handy, das sie wie ein Knäckebrot vor den Mund halten während sie in großem Abstand zueinander über den Platz wandern und gegen die Glocken anschreien.

   Zwei Pärchen am Ende der Unizeit betreten von rechts die Szene und sind hin und weg – aber es sind die Männer, die sich Arm in Arm vor dem Baum fotografieren lassen. Bei den nächsten die kommen, sagt er: "Hat was von Disney." Und sie: "Das kann man auch weniger kitschig machen – das ist ja total overloaded!" Und dann platzt etwas unter ihrem Stiefel – "Huch" entfährt es ihr und sie hält die Hand aufs Herz, "eine Knallerbse!" – das Schweigen des Feuerwerks, kaum etwas anderes, dass so eindringlich ist nicht stattgefunden zu haben. Vielleicht deshalb macht sie dann doch noch ein Foto.

   Ein Mann schlurft vorbei der nach Feierabend aussieht, ein anderer sammelt Flaschen – Corona hat ihm gründlich das Geschäft vermiest. Uns allen hat Corona so einiges vermiest. Und wer auch immer dafür verantwortlich ist, die werden noch ihre Strafe bekommen. So denkt man sich das und fühlt sich schon halb gerächt für all die Ungerechtigkeiten die einem widerfahren. Was aber urteilt? Was erdenkt diese Gerechtigkeit die uns genehm ist? Und müsste hier dann nicht ein besserer Ort sein als diese Richtstätte der Unschuldigen, der Rache an den Tätern oder deren Entkommen, der Armen, der Gewinner, der Gleichgültigen, Untätigen, sie alle dem Zufall zu überlassen wo der Stiefel in den Haufen hineinfährt? Oder wie erklärst du die Zähne des Gepards im Hals der Gazelle? All die Spendenaktionen zur Weihnachtszeit? Das T-Shirt für zwei Euro oder das Blut in den Schlachthöfen? Ich weiß nicht zu wem, aber ja, ein Gebet, dass uns hier nach nichts zur Rechenschaft zieht.

   Dem Kampfstier von Hund jedenfalls, der gerade am großen Weihnachtsbaum sein Bein gehoben hat, wird's egal sein – am anderen Ende der Leine bin ich mir nicht so sicher. Auf einer Bank vor dem Love Tree zwei Freunde, gerade über dreißig, die nach dem obligaten Foto nicht aufhören können zu staunen über die silberne Fackel, die zwanzig roten Herzen daran, eingefangen in Punkten aus Licht – sie haben es nicht eilig und keine Langeweile und reden. Ab und zu schleicht ein Auto durch die engen Gassen. Pärchen queren den Platz, Eltern, Schwiegereltern, Teenager, Herrchen und Frauchen, und fast alle nehmen Bilder mit.

   Etwas rappelt über das Kopfsteinpflaster näher – eine junge Mutter mit Kinderwagen biegt um die Ecke. Als sie an den Jungs auf der Bank vorbei muss, beschleunigt sie ihre Schritte, ihre Spur verhallt, und schließlich: Stille. Nichts bewegt sich, alles schweigt, auch die zwei Freunde, bis der nächste Jet röhrend reinkommt und mit gelben Augen die Nacht befingert die unser Schein nicht erreicht – wir haben uns so sehr ans Licht gewöhnt dass uns Angst macht ein dunkler Wald, das Rauchen ist längst verpönt und mit einem Smartphone lässt sich kein Feuer machen – und es wird frisch, wenn man so sitzt.

   Die Bank vor dem Baum wird wieder frei. Der ganze Platz ist jetzt leer. Dann höre ich leisen Gesang. Von links, behutsam ihre Schritte setzend, eine zierliche Frau mit einem Bündel in den Armen – ein Baby im Schlafsack, eingehüllt in Wärme und Melodie und einem Horizont der anfängt und endet an sicherer Brust. Möchte ich tauschen mit ihm? Nein. Aber die Hoffnung, die in der Stimme seiner Mama schwingt, dass alles gut wird und wir die Kurve kriegen, die nehme ich gerne mit in dieses neue Jahr 2022.

 

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Gedichte sind keine Mühsal der Interpretation wie uns die Schule sie lehrte. Gedichte sind eine Möglichkeit nach Fragen zu suchen unseren Platz im Leben zu finden.